Kettcar
"Mach immer, was dein Herz dir sagt."

Essen, 2. September 2005. Es ist ein schöner Freitag Abend und die Stadt hat zum "Essen Original"-Festival eingeladen (umsonst & draußen). Während Madsen gerade auftreten, rede ich mit Lars Wiebusch und Frank Tirado Rosales von Kettcar über den Erfolg des Albums "Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen", die Lage der Nation und Gänsehaut-Gefühle.

2005 ist bis dato euer erfolgreichstes Jahr. Ist es für euch eine Genugtuung bzw. Bestätigung, dass man als eigentlich nicht-hippe Typen auf einmal schwer angesagt ist?

Lars: Ich haue dir gleich aufs Maul (grinst). Natürlich, wenn am Ende die Musik vorne ist und nicht mehr die Leute, die das Produkt in die Welt tragen, dann ist das natürlich für uns eine angenehme Befreiung, dass wir jetzt nicht auch noch schön sein müssen (lacht).
Frank: 2003 war für uns in gewisser Weise ähnlich. Das war ein Jahr, wo wir eine Steigerung erlebt haben, die wir niemals erahnt hatten. Dieses Mal ist es so, dass wir wieder einen draufsetzen konnten, womit ich jetzt auch nicht wirklich gerechnet habe. Ich muss auch sagen, dass ich das sehr genieße. Ich bin jetzt aber auch nicht der, der sagt: "Seht her. Wir sind DIE Band überhaupt".

Wie viele Steine sind euch nach dem großartigen Erfolg des aktuellen Albums vom Herzen gefallen?

Lars: Natürlich waren wir sau-erleichtert. Man hat es aber auch kommen sehen, denn die Zahlen bei den Vorverkäufen bei Amazon oder in den Trend-Charts waren dementsprechend und wurden für mich fast Tages-Lektüre, da konnte ich mich immer dran aufgeilen (lacht). Es fällt einem aber am Ende  auch wirklich eine tonnenschwere Last von einem. Wir haben lange an der aktuellen Platte gearbeitet und am Ende steht dann eben die Frage: "Gefällt es oder gefällt es nicht" und wenn es gefällt, dann ist es einfach nur wunderbar.
Frank: Dazu kommt ja auch, dass man der Erwartung gegenüber steht mit dem zweiten Album noch erfolgreicher zu sein und man selbst will ja auch besser sein. Das erste Album ist ja schon so brachial eingeschlagen, womit keiner gerechnet hatte - höchstens gehofft -  und wenn dann das zweite Album die Resonanzen noch vergrößert, dann ist es in der Tat eine Riesen-Erleichterung.

Wie habt ihr die Hürde zum zweiten Album genommen. War es ein leichter Weg?

Lars: Es war ein langwieriger, kreativer Prozess (lacht), bei dem wir uns auch mal eine Woche eingeschlossen und gearbeitet haben. Musik ist halt auch Arbeit und es fliegt einem auch nicht alles zu. Als wir dann im Studio waren ist dann der Druck auch ein bisschen von uns abgefallen - vorher war er wesentlich größer - das gilt zumindest für die meisten Songs. Bei dem ein oder anderen hat sich der Druck sogar erhöht, aber grundsätzlich war das Gefühl während der Entstehung der Platte schon ein Gutes, was sich ja am Ende auch bewahrheitet hat.

In fast jedem eurer Songs ist immer eine klare Botschaft, ein Leitgedanke zu erkennen. Markus (Sänger und Texter) hat mal in einem Interview gesagt, dass er mittlerweile mehr auf seine Instinkte hört. Ist es das, was die Zeile "Mach immer was dein Herz dir sagt", beim Song "48 Stunden" vermitteln soll?

Lars: Klar. Das ist der Schlüsselsatz des Songs und eigentlich auch des ganzen Albums. Letztlich hat uns dieser Gedanke da hin gebracht, wo wir jetzt stehen. Ich finde auf jede gute Platte gehört so ein Sinnspruch, dafür ist der Markus immer gut.

Ein Song, der mit seiner inhaltlichen Absurdität auf der Platte etwas aneckt ist "Stockhausen, Bill Gates und ich" (Anm.: in dem Song bleibt Sänger Marcus mit Karl-Heinz Stockhausen und Bill Gates im Fahrstuhl stecken). War dieser Break auf der Platte bewusst geplant?

Frank: Der Song ist in der Tat der am härtesten diskutierte Song auf der Platte gewesen. Ganz definitiv. Einige haben auch gesagt, dass das auf keinen Fall ginge. Ich glaube, dass keiner von uns den Anspruch hat immer eine große Weisheit transportieren zu müssen. Es muss eben Platz dafür sein - genauso wie für Spaß.
Lars: "Stockhausen" ist ein ganz bewusst angelegter Kalauer, obwohl ja so ein bisschen Kritik auch dabei ist. Wir singen da ja nicht über das Wetter, aber die Ernsthaftigkeit, die uns immer nachgesagt wird, die Grübler der Nation zu sein (lacht), die wollten wir mal ein bisschen torpedieren. Das war der Grundgedanke dabei und es ist einfach schön, dass wir so oft auf den Song angesprochen werden.

Was mir an euren Live-Auftritten aufgefallen ist, dass ihr auf der Bühne immer lockerer werdet und nicht mehr so verkrampft auftretet. Dienten da andere Bands wie z.B. die ärzte als Vorbilder?

Lars: Nee, Vorbilder wurden da nicht so sehr genommen. Das kam mehr aus uns heraus. Der Druck, der da ist, wenn man vor vielen Leuten steht, ist gerade am Anfang einer Band sehr groß. Man selber setzt sich auch sehr unter Druck und irgendwann, wenn die Besucher mehr werden, kommt man zu dem Punkt wo man sagt "Wir können uns noch entweder mehr verrückt machen oder einfach eine gute Zeit haben". Insgesamt, denke ich, dass wir diesen Spagat zwischen Halli-Galli und Ernsthaftigkeit auf der Bühne gut hinkriegen.

Der Opener des aktuellen Albums "Deiche" ist ein deutlich politischer Song, der sich mit der aktuellen Gefühlslage der deutschen Nation beschäftigt? Wie kam es zu dem Song?

Frank: Ich denke bei Textzeilen wie "Der Kuchen ist verteilt, die Krümel werden knapp" - da brauch man nicht mehr zu sagen. Es geht halt um die Ausweitung des Grabens zwischen "Arm" und "Reich" durch das Etablieren von Hartz 4, Agenda 2010. Mehr muss man da, glaube ich, nicht erklären.
Lars: Um Texte wie den zu schreiben, muss man eigentlich nur täglich in die Zeitung schauen - da hat man Motivation genug. Hinzu kam die Situation, dass keiner zuvor einen solchen Text geschrieben hat. Man sieht es an jeder Ecke, aber keiner scheint es ansprechen zu wollen.

Der Umkehrschluss einiger Politiker bzw. Meinungsmacher ist, dass Deutschland zunehmend "unregierbar" wird. Wie denkt ihr darüber?

Lars: Ich denke, die Leute wissen einfach nicht mehr, was sie glauben sollen. Ich glaube, Deutschland ist ein sehr regierbares Land, nur die Leute glauben nicht mehr an die Leute, die an der Macht stehen. Da sehe ich im Moment keinen, wo man Vertrauen schöpft, was gerade in Deutschland sehr gefährlich ist. Die Situation hatten wir ja schon mal und dann kam jemand, der das Heft in die Hand genommen hat und wir wissen, wo das geendet hat. Ich sehe auch gerade jetzt ein bisschen die Gefahr, dass so was wieder kommen könnte, wo die Leute so sehr nach Sicherheit streben. Wenn da Einer kommt, der verspricht die Arbeitslosenzahl in zwei Jahren zu halbieren, da weiß man nicht, wie das ausgeht.
Frank: Je verunsicherter die Leute sind, desto einfacher fallen sie eben auf solche Leute rein.
Lars: In Deutschland hatten wir ja das berühmte Beispiel Ronald Schill. Der ist von Altersheim zu Altersheim gerannt und hat denen erzählt: "Der böse schwarze Mann kommt und frisst dich auf" und daraufhin sind die alten Leute zu den Wahlurnen gegangen in der Hoffnung "Schill rettet uns". Die Quittung haben sie ja bekommen und wenn so was wieder passiert, werden wir wieder die Quittung bekommen.

Vor allem dann, wenn jemand kommt, der dazu noch ein bisschen intelligenter ist als Herr Schill...

Lars: ... wohl wahr (lacht).

Welche musikalische Strömungen/Richtungen haben euch zum Musikmachen gebracht?

Frank: Ist bei uns ein bisschen schwierig zu vereinheitlichen, da wir alle eigentlich aus unterschiedlichen Richtungen kommen, wobei gerade das vielleicht auch etwas ist, was unsere Musik so prägt.

Ihr habt vor kurzem Coldplay auf deren Deutschland-Gigs unterstützt. Wie war die Reaktion als die Anfrage kam?

Lars: Die erste Reaktion war "Machen oder nicht machen?", "Macht es Spaß oder werden wir da geknüppelt?". Das sind so die Fragen, die man sich dann stellt. Wir sind da die allerkleinste Nummer und wir haben ja schon mal supportet und haben uns seitdem geschworen, dass wir das nicht mehr machen wollen (lacht). Das war damals als wir mit Bad Religion gespielt haben...

... eine krude Mischung...

Frank: ... war auch wirklich böse.
Lars: Das war am Anfang unserer Karriere, wo wir den großen Plattenfirmen zeigen wollten: "Wir machen alles." Erst später sind wir auf den Trichter gekommen: "Das brauchen wir alles gar nicht". Es war also wirklich ein hart diskutierte Frage, letztlich hat aber den Ausschlag gegeben, dass wir vor unseren Göttern gespielt haben, was aber letztendlich doch kleiner war als R.E.M. Für mich persönlich war es zumindest so, denn Coldplay haben gerade einen Megahype während R.E.M. seit über 20 Jahren im Geschäft sind.

Markus hat ja früher auch für Rantanplan, eine großartige Ska-Punk Band, Texte geschrieben und auch gesungen. Wird Ska jemals bei Kettcar auftauchen?

Lars: Nein, bestimmt nicht (lacht). Es wird vielleicht mal Elemente geben, aber wir werden niemals die Schublade aufmachen. Das ist keine Bandmusik und wir werden uns da wohl nicht einig werden.
Frank: Da sehen wir uns auch gar nicht. Wir bedienen uns in unserer Musik schon vieler Elemente, aber wir würden uns niemals auf einen Stil in einem Song festlegen.

Ich habe kürzlich eine Live-Version von "Balu" von eurem Auftritt bei "Rock am Ring" in diesem Jahr gehört, mein Lieblingssong auf der Platte, und wirklich eine Gänsehaut bekommen. Wie habt ihr das persönlich erlebt?

Lars: Frank war ja bei dem Song nicht auf der Bühne. Ich hatte auch die ganze Zeit Gänsehaut, denn es war einfach ein erhebendes Gefühl, dass ich eines Tages meinen Enkeln erzählen werde (lacht). Das ist unglaublich eine solche Menschenmasse zu sehen, die einfach nur dabei ist, denn es fand ja kein Pogo statt und der Jubelsturm, der danach einsetzte war einfach einmalig. "Balu" ist auch mein persönlicher Lieblingssong auf dem Album, wo wir halt auch richtig die Emo-Keule schwingen. Den zu spielen macht immer Spaß.

Was ich mir unmittelbar nach dem ersten Hören bei "Balu" gefragt habe: "Wie lange haben die überlegt, den Wanne-Eickel Reim auf die Platte zu bringen"? Oder war das kein Thema bei euch?

Lars: Da gab es keine Banddiskussion. Markus hat einfach den Text geliefert und der wurde abgenickt, wobei klar war, dass "Wanne-Eickel" so eine Stadion-Mitgröhl-Passage ist, weil der Name einfach so schön dumm klingt...

... wie Castrop-Rauxel oder Oer-Erkenschwick?

Lars: Ganz genau. Oder Montabaur und Bottrop (lacht).

Ihr veröffentlicht bei "Grand Hotel van Cleef", eurem eigenen Label und habt ja auch bei "...But Alive" oder "Rantanplan" schon auf eigenen Labels veröffentlicht. Habt ihr es auch über die Major-Schiene probiert?

Frank: Ja, es gab da dann zwei Antworten, die wir eigentlich immer gehört haben. Antwort Nr. 1 war: "Das will keiner hören" und Nr. 2 war: "Ihr seid viel zu alt".
Lars: Wobei wir bei fünf Majors angefragt haben und bei drei von denen gab es dann die genannten Antworten, aber zwei haben uns auch Verträge angeboten. Nur wären wir da unseres Lebens nicht mehr froh geworden, da wären wir für immer verkauft worden. Irgendwann kam dann ein guter Freund und sagte: "Was die können, könnt ihr schon lange" und hat uns dann die Empfehlung zum eigenen Label gegeben. Das war wirklich die beste Idee und durch diese Entscheidung haben wir uns ja auch noch mal positioniert.

Bekennender Maßen seid ihr ja große Fußball-Fans - natürlich vom FC St Pauli. Wann wird St. Pauli wieder in der 1. Liga kicken?

Lars: Dieses Jahr gibt ja wieder ein bisschen Grund zur Hoffnung, aber ich weiss es nicht. Am liebsten wäre mir dieses Jahr (lacht), wobei die ja jetzt wieder in Düsseldorf auf die Mütze gekriegt haben...

...in Düsseldorf? Die sind ja schon schlecht...

Lars: Ja, Letzter. Themawechsel! (lacht)

Ihr spielt ja dieses Jahr noch ein paar Club-Shows. Wie sieht danach die Zukunft von Kettcar aus?

Lars: Danach gibt's erst mal eine kreative Pause. Anfang 2006 werden wir dann wieder anfangen zu proben und werden an neuen Songs arbeiten.

Was war eure erste Berührung mit die ärzte?

Lars: Das war einfach meine wilde Jugend. Also angefangen von "Westerland" über "Geschwisterliebe" und alles was dazugehörte. "Der Ritt auf dem Schmetterling" war immer mein Favorit.
Frank: die ärzte kenne ich seit der ersten Platte und mein ganzer Freundeskreis ist mit denen aufgewachsen. Das fängt an mit Liedern wie "Roter Minirock"...
Lars: ...die ärzte haben einen schon begleitet in der Jugend, wird bei dir ja auch nicht anders gewesen sein.
Frank: Man könnte ja schon fast die Frage stellen: "Wann bist du geboren und ich kann dir sagen, wann du die ärzte zum ersten Mal gehört hast?". Man kommt ja einfach nicht daran vorbei.
Lars: Es gibt wohl auch wenige Bands, wo mir auf Anhieb so viele Songs einfallen wie bei die ärzte. Das ist, glaube ich, ein großes Kompliment.

Vielen Dank für das Gespräch.